Das Internet öffnete sich so von der rein funktionalen, standardisierten und statischen Anschaulichkeit ungeöffneter Dateien in ftp- oder gar telnet-Programmansichten Repräsentationsformen, die durch ihre Willkürlichkeit bzw. Arbitrarität – quasi funktionale Ungebundenheit - kreativen Kommunikationsstrukturen ein neues Forum boten. Entsprechend war Internetkunst, die an die grafische Form der Konnektivität im World Wide Web anknüpfte, der neuen Situation angemessen und in der Lage, der Voraussetzung eines grundsätzlich ästhetisch autonomen Mediums im tradierten Kunstbegriff zu entsprechen.
„Erste“ Künstler dieser Stunde, die sich in einer - allerdings zentristischen - Literatur zur Thematik durchsetzten waren Marc Napier, jodi.org und Wisniewski mit Browsern wie „Shredder“, dem „Netomaten“ oder dem „Fragmentalstorm“.
Napier wandte sich als bildender Künstler dem neuen Medium zu. Der Browser „Shredder“, der die aus dem Web mit klassischen Sucheingaben abgerufenene Inhalte wiedergibt, gestaltet deren Darstellung in einem abstrahierenden, expressiven Sinne um: Einige Inhalte werden nur über ihren Code dargestellt, andere werden an einer Bildecke zusammengerafft bis zur Unleserlichtkeit, bzw., bis sie nur noch ein grafisches Muster darstellen. Der informationelle Wert wird zugunsten des grafischen Wertes reduziert.
In der Internetkunst-Community setzte sich der Shredder durch als Hinweis auf die Beliebigkeit der Repräsentation von Internetinhalten durch den Browser. D.h. Es wurde deutlich, dass der Browser die abgerufenen Inhalte verändern kann und über deren Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entscheidet. Die Idee einer „fotorealistischen“ oder primär darstellungsorientierten Abbildung von Inhalten durch grafische Browser sah sich damit kritisiert.
Napiers „Shredder“ steht andererseits in einer Tradition der formalabstrakten, informellen Kunst, die der reinen Anschaulichkeit abstrakter Formen und dem Vergnügen an ihrer ästhetischen Wahrnehmung einen zumindest gleichen Stellenwert neben einer semantischen, d.h. auf die Konstruktion oder Darstellung von Bedeutungen bezogenenen Kunstform zuspricht.
Der formale, die neuen Strukturen der grafisch-elektronischen Fläche ausschöpfende Aspekt, wird insbesondere bei dem Browser „FragMental Storm“deutlich, seit 2009 auch für IPhones erhältlich. Der FragMental Storm erstellt einen zufallsgenerierten, kaleidoskopischen Film aus Suchergebnissen und verwandten Urls her, darunter insbesondere gefundene Bilder, sodass das Ergebnis bei darstellungsfreundlichen Begriffen wie „Skateboard“ attraktiv ist, während Inputs wie „Institut Phonetik“ wahrscheinlich ästhetisch weniger populäre Inhalte evozieren. Wie auch immer, der Browser ist mittlerweile vom Erfinder selbst kommerzialisiert und steht nicht mehr zum kostenlosen Download sondern zum Softwarepreis im Onlineshop der Webseite zur Verfügung:
www.exonemo.com
In diesem Fall wurde also Kunst mit kommerziellen Angeboten (gestaltete T-Shirts etc.) identisch, während im Fall von Marc Napier neuere Werke zwar für „jedermann“ im Internet abrufbar sind, aber dort auch so präsentiert, dass sie vor Raubkopien oder unkontrollierter Inbesitznahme geschützt sind. Andererseits handelt es sich bei Napiers Werken tatsächlich um Programme, die mit dem Ziel einer spezifischen, in bestimmbaren Aspekten zufallsgenerierten Gestaltung entwickelt wurde; während FragMental Storm oder auch Wisniewskis „Netomat“ in dem Sinne von einer wirklichen Auseinandersetzung mit der „Kunst des Internetbrowsens“ abweicht, als sie nicht die arbiträre Funktionalität des Browsers zur Schau stellt, sondern vielmehr das Zusammenspiel von Internetsuchmaschine und Browser thematisiert. Quasi besonders einfach ist der Browser „Netomat“, der die bei dem Aufruf eingegebene Url als neues, grafisches Muster präsentiert, nicht aber in der von den ursprünglichen HTML- oder Javadesignern vorgesehenen Zweckform.
Die mitunter oberflächliche und zufällige Gestaltung des so inszenierten Werkes ist für die Autoren der Internetkunst-Historie kein Manko, sondern angemessener Hinweis auf die Zufälligkeit der grafischen Form, in der die über das Internet transportierten Inhalte im Browser sichtbar werden .
Gemäß einer kunsthistorischen Linie folgte auf diese, durch eine sehr übersichtliche Arbeit von Nina Kahnwald für den deutschsprachigen Raum erschlossene Phase („Netzkunst als Medienkritik. Neue Strategien der Inszenierung von Informationsstrukturen. Kopaed München 2006), in der Werke zum potenziellen Kunstcharakter der Onlineinformation im Vordergrund standen, eine mehr traditionalistische, in der KünstlerInnen den Ansatzpunkt der grafischen Browseroberfläche auf jede Art von Bildschirm erweitern: Eine ästhetisch zu erschließende, interaktive „Screen“, die immer existiert, wenn in interaktiver Weise Informationen an andere, vernetzte Geräte oder Personen vermittelt werden. Diese „Screen“ wird von Autoren wie Timothy Murray oder Kate Mondloch in den Traditionen der Spiegelmetaphorik vom Barock bis hin zur psychoanalytisch geprägten Gegenwartsphilosphie und ihren ästhetischen Dispositiven kunsthistorisch und theoretisch untersucht (Murray, T.. Digital Baroque. New Media Art and Cinematic Folds. Univ.of Minnesota Pr. Minneapolis London 2008; Mondloch, K.. Screens. Viewing Media Installation Art. Univ.of Minnesota Press. Minneapolis London 2010.)
Werke dieser Phase um 2002 bis 2004 herum entstehen als Installationen in und für Museen, die NutzerInnen innerhalb von Ausstellungen mit NutzerInnen außerhalb der Museums- oder Ausstellungswände verbinden. Beispiele für solche Arbeiten sind „The difference engine #3“ oder „Telegarden“.
The Difference Engine #3 ist ein auf viele Orte verteiltes Kunstwerk, das eine skulpturale Installation im ZKM (Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe) mit einer immateriellen, bildschirmbasierten Umgebung kombiniert. Diese Elemente werden über das Internet zu sich gegenseitig betrachtenden Standorten arrangiert. Im ZKM befinden sich Digitalkameras, Computer und Bildschirme, die in den Ausstellungsräumen des Medienzentrums verteilt sind. Im Eingangsbereich werden die BesucherInnen über einen Bildschirm auf die Installation hingewiesen und auf drei bidirektionale Browsereinheiten, die sie verwenden können, um die Steuerungsmöglichkeiten der Installation vom Internet aus zu erfahren. Diese Möglichkeiten haben auch NutzerInnen des Internets, die die Ausstellung nicht besichtigen. Innerhalb der Ausstellung werden die (einwilligenden) BesucherInnen selber beim Betrachten der Installation aufgenommen, ihre Bilder zu Avataren, die auf den Bildschirmen der Installation in multipler Form erscheinen. Über das Internet kann man diese Avatare auswählen und verschiedenen Standorten zuordnen, an denen sie wieder erscheinen und sich mit anderen Avataren mischen.
„Telegarden“ bestand als Installation von 1995 bis 2004 im Zentrum der Ars Elektronica in Linz. Der reale Garten, ein großes Beet unter Kameraaufsicht und unterstützt von fleißigen Robotern, die das Beet mit Saatgut und Wasser versorgten sowie die Beleuchtungs- und Temperaturverhältnisse regelten, wurde von angemeldeten Gärtnern und Gärtnerinnen aus dem Internet gepflegt. Bei einer bestimmten Anzahl von Seitenaufrufen, das heißt, Häufigkeit eigener Besuche der Gartenseite, erhielten die InternetgärtnerInnen eine festgelegte Anzahl von Saatgut, das sie verteilen lassen durften, Wasser, Licht und Roboterenergie, um die von ihnen gewählten Flächen zu versorgen etc. (Mondloch, S. 81 – 89). Mondloch hebt hervor, dass der Begriff der räumlichen Interaktion sich durch diese Installationen auffällig verändert bzw. verunsichert wird. Die Realität dessen, was hinter dem Bildschirm zu sehen ist, bleibt für die reinen NetznutzerInnen 'unbestätigt' – es könnte sich natürlich bei allem um eine Simulation handeln. Die passiven Besucher hingegen entwickeln keine Vorstellung vom Werk, die in dieser Weise repräsentational und hintergehbar ist. Dennoch ist die räumliche Distanz oder Anwesenheitsform der beiden Gruppen durch die Art der Interaktion virtuell aufgehoben oder sogar umgekehrt. Die Besucher des Linzer Ars Elektronica Zentrums konnten die von den WebgärtnerInnen eingeleiteten, quasi zu prüfenden Vorgänge im Telegarten gar nicht erst sehen sondern – höchstens – irgendwelche Ergebnisse. Gerade die Unmittelbarkeit der Interaktion, die eigentlich Verlässlichkeit stiften sollte, lässt durch die räumliche Distanz neue Aspekte der Simulierbarkeit deutlich werden.