Zwar ist es durchaus möglich, auf der Basis von Kunsttheorie und Kunstgeschichte normative Begriffe zu entwickeln, denen die geschaffenen Werke dann mehr oder weniger entsprechen. Dem Begriff der Gegenwartskunst, der den Künstlerinnen und Künstlern eine avantgardistische Rolle attestiert, würde eine ausdrücklich normative Begriffsbildung aber nicht gerecht.
Schon aus theoretischer Perspektive entstünde ein Evaluierungsparadox: (Internet-)Kunst müsste einerseits kategorialen Schemata entsprechen, die aus Theorie und Geschichtsschreibung entstanden sind. Andererseits müssten die Werke ihr kategoriales Schema überschreiten – eben avantgardistisch erweitern, verletzen, verbessern, entlarven, ins Paradox treiben etc. - um überhaupt einen Kunstanspruch erheben zu können.
De facto bewegt sich Kunst, wenn man versucht, sie klassifikatorisch zu beschreiben, in eben diesem Paradox. Nur glücklicherweise heben sich häufig Kuratoren von der prinzipiellen Strenge der Tradition ab und stellen einfach aus, was zu einem aus „kunstfremden“ Gründen gewählten Thema passt, was einem sozialen Anspruch genügt oder, noch besser, von KünstlerInnen entwickelt wurde, die ohnehin schon bekannt sind und vielleicht, aber nicht notwendigerweise in eines der bekannten Schemata und dessen Widerspruchsbewegung passen.
Auf der Ebene bekannter Ausstellungen begann das, was heutzutage als Internetkunst erwähnt werden kann, als computergenerierte Musik: in kunstvoll oder „artifiziell“ ausgestalteten Räumen, mit elektroakustisch umbrausten Sitzgelegenheiten etc. Schnell wurde daraus „Multimedia“ und die Installation mit Computermusik und Videos. Die Videofilme wurden irgendwann durch Bildschirmprojektionen von Bildern und Bildfolgen, bis hin zu Filmen aus Bits und Bytes ersetzt. Alles dieses noch im Rahmen von Installationen, um es z.B. von der Präsentation auf Filmfestivals und Kunstfilmen oder Avantgardefilmen abzugrenzen: Der Installationskünstler gestaltete den Zuschauer- oder Zuhörerraum mit.
Eine deutlichere Grenze zum Filmemacher lag dann vor, wenn der computerrelevante Anteil des Werkes so beschaffen war, dass kein fertiges Werk (keine festgelegte Bildfolge) inbegriffen war, sondern diese aus einem Bilderfundus oder sogar den möglichen ästhetischen Outputs eines Computers selber innerhalb der Installation durch den Betrachter oder die Betrachterin versus Interaktion gestaltet werden konnte (und kann).
Solche Gestaltungselemente sind sofort namensgebend bzw. entfalten kategorisierende Kraft. Sie können, sie müssen sich aber nicht auf formale und materiale Eigenschaften des Computers oder eines Computernetzwerkes beziehen. Entscheidend ist, dass Gestaltungselemente durch die BetrachterInnen manipuliert werden können. „Interaktiv“ ist ein Werk entsprechend auch dann, wenn es z.B. als Rauminstallation mit einer Zufallsauswahl aus verschiedenen Lichtverhältnissen auf BetrachterInnen-Bewegungen im Raum reagiert. Als und schon bevor das Internet eine weitere Kunstplattform anbot, existierten also folgende „Sparten“, in denen Computer oder Multimedia-Elemente eine Rolle spielten:
1.Computergenerierte Musik und polyästhetische Erfahrungen
2. Multimedia-Installationen
3. Netzwerke und bildschirmbasierte Vernetzungen
Die Rolle der Theorie
Gemäß Lessings „Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“ (1966) und
Clement Greenbergs „Modernist Painting“ (1960) sind kunsttheoretische Kategorien nicht nur formale Differenzierungen, sondern auch normative Anstöße für die inhaltliche Thematik von Werken. So kann man von computerbasierten Interaktionen in Installationen erwarten, dass sie den Computer nicht nur naiv nutzen, sondern als verwendetes Medium in den Werkinhalten reflektieren. Das Motiv dieser Reflexivitätsnorm ist kein arbiträres Nebenprodukt einer hegelianischen Denktradition. Es tradiert sich vielmehr aus dem wichtigen Grund, dass Kunst sich begrifflich durch den bewussten Umgang mit Repräsentationstechniken auszeichnet. Das schließt analytisch-reflektierende Aspekte in Bezug auf die eingesetzten Instrumente - die klassische „techné“- kunstvolle Technik -, ein. Diese ist nicht einfach aufgrund ihrer Regelfülle schwierig zu lernen und daher, beherrscht, außergewöhnlich, wie man es vielleicht von der Mathematik und Ingenieurswissenschaft annehmen könnte, sondern fordert das findige, eigenständige Erschließen von nachvollziehbaren Eigenschaften und Regeln der Darstellungstechniken. In guten Fällen handelt es sich dabei immer um potenzielle Regeln, wie z.B. nachvollziehbar in interpretierenden Künsten wie dem Klavierspiel und der besonderen Form des Tastenanschlags eines Tones in einer bestimmten Vortragssituation, - den man verallgemeinernd nachvollziehen und wiederholen könnte, dessen besondere Qualität jedoch im Allgemeinen zu unbedeutend ist – schon bei der nächsten Aufführung der Komposition kann eine andere Nuance besser sein – um wirklich eine Regel zu konstituieren. Aus formal-theoretischer Perspektive ist die Formgebung in einem Kunstwerk immer aspektualisierend semantisch – von der programmatischen Deklaration bis zur Nuancierung – und marginal (im positiven Sinne von 'ungewöhnlich') genug, um formal nicht generalisiert zu werden: eine Generalisierung wäre möglich, aber auch überflüssig.
Sobald Lessing und Greenberg also eine wirkliche Norm postulieren, dass z.B. flächige Medien auch als Fläche malerisch oder gestalterisch behandelt werden müssen und ihre Differenz zur Skulptur und Raumillusion betonen müssen, wird die Deskription einer inhärenten, nachvollziehbaren bildlogischen Idee – auf einer malerischen oder digitalen Fläche die Flächigkeit des Mediums darzustellen bzw. zu betonen und analytisch zu erschließen - zur theoretischen Norm, die schon deshalb nicht überzeugend funktioniert, weil sie sich letztlich höchstens als Rationalisierung eines Geschmacksurteils gegenüber der Realität der Kunstwerke behaupten kann: Manieristische Bilder sind keine wertlosen Kopien bildhauerischer Prinzipien, nur weil sie unter Verwendung illusionistischer Prinzipien der Perspektive gemalt sind. Man kann die gezielte Täuschung geschmacklos finden, muss dann aber die Wahrhaftigkeit eines Werkes gegenüber seiner Materialität mindestens 'besser' finden – die Ästhetik erhebt sich also lediglich zur Ethik, wobei man dann sagen könnte, dass das ethische Argument so wenig seinem Gegenstandsbereich inhäriert wie die Tiefenillusion der Flächigkeit des Bildes.
Illusionistische Techniken werden von Künstlern bewusst und quasi zu Bewusstsein bringend eingesetzt zur Instrumentierung inhaltlicher oder auch formaler Bildideen. Formalistische Kunst beschänkt sich insofern in ihren Inhalten in erlaubter, mitunter eben tendenziell defizitärer Weise. Andererseits ist „Kunst“, die gegenüber formalen Aspekten blind ist, häufig keine, weil auch die nichtformalen Inhalte nicht so in ihren Aspekten hervorgehoben erscheinen, wie man es bei einer auch formal bewussten Gestaltung nachvollziehen kann. Der geschichts- und theorieblinde Art Brut'ler ist insofern tatsächlich kein Künstler, während ironischerweise jemand, der bewusst z.B. Formen der Art Brut kopiert, schon eher als Künstler gelten könnte :). Man muss weder Nelson Goodmans Überlegungen zu Cervantes und Menard (Goodman, N. Languages of Art, Indianapolis Univ. Press: 1966) bemühen, die dasselbe Buch mit unterschiedlichem literarischem Wert schreiben, sondern kann sich auch mit den „Pissoirzeichnungen“ von George Grosz zufrieden geben, die sicher auch an den Wänden der einen oder anderen Irrenanstalt denkbar sind.
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